Die Tücken des Rüdesheimers.

Humoreske von Adolf Lippold
in: „General-Anzeiger für Essen und Umgegend” vom 21., 22.9.1896,
in: „General Anzeiger für Duisburg und Umgegend” vom 6.12.1895,
in: „Lenneper Kreisblatt” vom 15., 17., 20.11.1893,
in: „Remscheider Zeitung” vom 18., 20.11.1893,
in: „Hagener Zeitung, Unterhaltungsblatt” vom 12.1.1894,
in: „Langenberger Zeitung” vom 24., 26.1.1894


„Uff!” sagte der cand med. oder vielmehr der nunmehrige approbierte Arzt Dr. Franz Lüdtke, indem er mit einem Seufzer der Befriedigung die Hallen des Kaiserlichen Telegraphenamtes verließ, aus denen er soeben seinen „Alten”, dem Medizinalrat Dr. Lüdtke nach F. telegraphiert und damit Nachricht gegeben hatte , daß er, als dereinstiger würdiger Nachfolger seines Vaters, nach vierzehn Semestern heute seine letzten Examina glücklich bestanden habe und in einigen Tagen in der Heimat eintreffen werde.

„Uff! — Das war ein hartes Stück Arbeit! — Nun aber auf zum Vater Rießner, und sein bester Rüdesheimer soll mir gerade gut genug sein, um meinen innern Menschen nach diesen Tagen harter Last gebührend zu stärken.” - - —

Er hatte den Keller erreicht und saß bald an seinem alten traulichen Platz. Nur mäßig drang die Beleuchtung von der nächsten Gasflamme hierher in den schattigen Winkel, aber desto geheimnisvoller spielte das entfernte Licht in dem grünen gefüllten Römer und warf farbige Reflexe an die dunkle Kellerwand. — So war es aber unserem neugebackenen Doktor der Medizin eben recht.

Ein seltsames Gemisch von Traurigkeit und Frohsinn, übersprudelnder Lebenskraft und Melancholie war über ihn gekommen, darum floh er auch heute der Korpsbrüder „wilde Reihen” — wußte er es doch ohnehin, daß er ihnen ohne Abschied und Obolus in Gestalt einer kräftigen Ex-Kneipe oder eines Doktor-Schmauses nicht entging und nicht entgehen mochte. — Heute aber hatte es ihn hierher, in diesen altvertrauten Schmollwinkel, den er nie in Gesellschäft, sondern stets allein aufsuchte, gedrängt, — es verlangte ihn mit seinen Gedanken und — Gefühlen allein zu sein und stille Abrechnung zu halten. —

„Pereat Philistertum!” hatte er selbst so oft gerufen und nun — wörtlich nach Dir, o altes, herrliches Studentenlied:

„Zur alten Heimat geh' ich ein,
Muß selber nun Philister sein”

mußte auch er nun selbst Philister werden.— „Kellner! Noch eine Flasche solchen Getränkes! — ”Und dann!

„Bruder Deine Liebste heißt?”

— sie — — Hm! — Unsinn! — Hatte er sie doch kaum ein Dutzend Mal gesehen, obwohl er nun bereits vier Jahre mit ihren Eltern in einem Hause wohnte.

Seine Bude lag im dritten Stock — sie — resp. ihre Eltern, Major von Zöllner nebst Gemahlin und Töchterlein, wohnten im zweiten Stocke eines eleganten Miethauses der innern Oberstadt.

Aber reizend war es doch, wie er sie damals vor vier Jahren so plötzlich kennen lernte! — Und das war so zugegangen. Er kam aus der Kn....., bitte sehr, aus der Vorlesung — dieselbe hatte sich aber etwas über Gebühr bis gegen zwei Uhr mittags verlängert. Am Fuße der zum zweiten Stockwerk führenden Treppe blieb er unwillkürlich stehen, denn er hörte oben auf dem Flur dieses Stockes das silberne Lachen einer Mädchenstimme, welche von „Mama” Abschied nahm. Gleich darauf trippelte es die Stufen herab und einen Augenblick später begegnete ihm auf dem Treppenabsatz, um die Ecke der oberen Treppenhälfte biegend, ein schelmisch lächelndes Menschenkind und schaute, aus großen, prächtigen, blauen Augen, auf den Korpsstudenten, der das junge Mädchen, von dessen Dasein er bisher, trotz seiner bereits viermonatlichen Nachbarschaft keine blasse Ahnung gehabt hatte, ebenso erstaunt wieder anschaute. Er schickte sich eben an, die farbengeschmückte Mütze zu lüften, als plötzlich die junge Dame mit dem Absatz ihres zierlichen Stiefels an einer der zur Teppichbefestigung dienenden Oesen hängen blieb, darob ins Stolpern und Schwanken geriet und im nächsten Moment buchstäblich in die zu ihrer Aufnahme weit geöffneten Arme unseres Lüdtke fiel. — — Da lag sie nun, erschreckt wie ein eben flügge gewordener kleiner Spatz, der, seine Kräfte überschätzend, zur Erde fällt und schaute bleich und schüchtern in das hübsche, gesundheitsstrotzende Gesicht des jungen Franz, der sie nun wieder — aber mehr verdutzt als erschreckt — anschaute. Wie sie aber so hilflos, jetzt wie ohnmächtig die Augen schließend, in seinen Armen lag, der leicht geöffnete Mund mit den Perlenzähnchen seinem Gesicht zugekehrt, da war es ihm auf einmal, als ob er durchaus nicht anders könnte — er senkte seinen hübschen Schnurrbart schnell auf das rosige Mündchen und trank einen süßen Kuß von den blühenden Lippen.

„Donnerwetter!” sagte Franz jetzt vor sich hin in der Erinnerung an das Abenteuer, „Kellner! Noch eine Flasche solchen Getränkes!” —

Ja— ein Donnerwetter war es freilich, was damals der unbewußt kühnen That Lüdtke's folgte, denn — im nächsten Augenblick stand die damals wohl kaum sechszehn Frühlinge zählende Schöne, mit blitzenden Augen und drohend geschwungenem Sonnenschirm vor ihm und — Franz Lüdtke — kniff aus — wenigstens wußte er bis zum heutigen Tage nicht genau, wie er in seine Bude gekommen war. —

Von seiner Wirtin erfuhr er später, daß Gertrud — so hieß die rabiate junge Dame — des Majors einziges Töchterlein, damals eben aus der Residenz, wo sie bis dahin im Pensionat gewesen sei, gekommen war, aber bereits nach drei Tagen zu einem längeren Besuche ihrer Tante auf irgend ein Gut wieder abgereist sei. Erst fast ein volles Jahr darauf war sie zurückgekehrt, — — — aber wie zurückgekehrt! — -

Nun — just so, um unseren guten Franz Lüdtke — der ohnehin jenes Abenteuer und — was die Hauptsache war, jenen Kuß nie vergessen hatte, den Kopf und das Herz, trotzdem er es sich freilich niemals eingestand, vollends zu verrücken. Aus dem knospenden, lieblichen Backfisch war eine prächtige, herrlich aufgeblühte Mädchenblume geworden, und wenn er ihr, was freilich selten geschah, da ihre Lebensweisen natürlich stark kontrastierten, ja zufällig dann und wann einmal begegnete, so erwiderte sie wohl seinen ehrfurchtsvollen Gruß durch ein kurzes Nicken ihres schönen Kopfes, dabei blieb es auch bis jetzt, und nun — sollte auch das aufhören! — —

„Schmachtlappen!” räsonnierte Lüdtke, hier mit seinem Gedankengang angekommen, über sich selbst — aber es half ihm weder das Räsonnieren, noch das schnelle Trinken des feurigen Getränkes, er kapitulierte — und gestand sich weh- und demütig ein, daß — er verliebt — rettungslos verliebt war.

Es war elf Uhr vorbei, als Dr. Franz Lüdtke den Weinkeller verließ. Seine Stimmung war eine gehobene, seine Laune vortrefflich, denn in der letzten halben Stunde hatte ihm Vater Rießner, welcher den guten Gast nur ungern verlor, Gesellschaft geleistet und in eigner Person, zur Feier des Tages, eine Flasche mit dem bekannten weißen Kopf geholt und spendiert und auf diese Weise die zuletzt ziemlich sentimentale Stimmung seines Gastes glücklich vertrieben.

„Gehen wir heim heute”, monologisierte Lüdtke vor sich hin, während ihn seine Piedestale in nur geringen Zickzacklinien dahin trugen. „seien wir solid — wie es sich für einen angehenden Philister gebührt — oder wie wäre es mit einer kleinen Exkneipe? — Pfui, Franz! Sind das Deine festen Vorsätze? — Nein! Ich will nicht abweichen vom Pfad der Tugend. — Der Wein taugt ohnehin in der Korpskneipe nichts und Bier? — Bier auf diesen Göttertrank? — Die reine Blasphemie!”

Bald erreichte er sein Haus, schloß gewohnheitsmäßig auf und wieder zu und stieg die Treppen hinauf. Seltsam! An der Vorsaalthür haperte es etwas mit dem Schlüssel, endlich ging derselbe hinein, Franz trat ein und wandte, sich auch im Finstern leicht zurechtfindend, sich links, wo, nach dem Garten zu, dicht neben seinem Wohnzimmer sein Schlafgemach lag. Er trat direkt in letzteres ein und suchte jetzt in allen Taschen nach Zündhölzern.

„Das ist dumm!” sagte er ein wenig ärgerlich. „Die Büchse ist vollständig leer! — Na! zieh'n wir uns denn, wie so oftmals im Dunkeln aus!” Dies that er denn auch, legte seine Sachen auf den am Bett stehenden Stuhl, ließ die Stiefel stehen wo sie standen und suchte das Bett auf.

„Verflucht! wo hat denn wieder unser Besen, mein Nachthemd hingethan. Es liegt richtig nicht im Bette. Na warte! Du sollst morgen früh die Engel pfeifen hören!”

Mit diesen in kurzen Abrissen ausgestoßenen Worten legte er sich ins Bett, und kaum 10 Minuten später verkündeten seine regelmäßigen Athemzüge, daß er dem Schlafe in die Arme gesunken war.

In dem kleinen Salon der Major von Zöllner'schen Wohnung saß an demselben Abend gegen halb zwölf Uhr das Stubenmädchen Toni, das zugleich als Zofe der beiden Damen fungierte, bei einer Häkelarb und wartete auf das Nachhausekommen ihrer Herrschaft, welche zu eoner kleinen Festlichkeit bei einer befreundeten Familie abwesend war. Auch Fritz, des Majors Bursche, Diener und Reitknecht in einer Person, war mit, nur die alte Köchin lag längst in den Federn, und so war Toni ganz allein. Die Häkelarbeit aber wollte heute nicht vom Flecke, vielmehr kamen immer mehr häufende Momente, wo sich das niedliche Stumpfnäschen auf die Arbeit senkte, worauf dann Toni allemal neue energische Anstrengungen machte, sich des Schlafes zu erwehren. — Auf einmal horchte sie auf. Schloß nicht jemand an der Saalthür? — Nein! Sie hatte sich getäuscht. Käme die Herrschaft nach Hause, so hätte sie das Vorfahren des Wagens gehört. — Aber jetzt rollte es die ziemlich einsam liegende Straße daher. Toni eilte an's Fenster, richtig — ein Wagen hielt vor dem Haus det — es war die Herrschaft. Schnell nahm Toni die Lampe und eilte, die Thüren zu öffnen, und in der nächsten Minute traten die Erwarteten in's Zimmer. Major von Zöllner, ein jovialer Fünfziger, zog sich sofort mit seiner Gemahlin zurück, Fritz ging auf sein Bodenkämmerlein, und Toni begleitete ihre junge Herrin in deren niedliches Gemach, um derselben beim Auskleiden behilflich zu sein. Schnell war die Nachtoilette der jungen Dame beendet, und das kleine Nachtlicht in zierlicher, rosafarbener Kugel angebrannt.

Freundlich und liebevoll strich Toni noch einmal über die Kissen des Bettes, in welches Gertrud geschlüpft war, dann nahm sie die Lampe und verließ nach einem von der jungen Herrin freundlich erwiderten „Gute Nacht!” das Zimmer. —

Aber kaum hatte sich die Thür hinter Toni geschlossen, da öffnete sich dieselbe auf's Neue, atemlos stürzte Toni herein, verriegelte die Thür so schnell sie konnte, hinter sich, setzte die Lampe auf den Tisch und war im Nu wie Schutz und Hilfe suchend, am Bette der bestürzt darein schauenden Gertrud.

Mit der Courage der letzteren schien es aber gar nicht so weit her zu sein, wie vielleicht der geehrte Leser oder die schöne Leserin glaubt, nachdem wir vorhin von der Kampfbereitschaft Gertruds gelegentlich der Kußgeschichte, gelesen haben, sie zog vielmehr die bebende Toni, in Ahnung einer ihr drohenden schrecklichen Gefahr, flugs zu sich ins Bett, sich selbst wohlweislich in die hinteren Regionen desselben zurückziehend und es - mehr praktisch als uneigennützig — Toni überlassend, sich einem etwaigen Raubmörder oder sonstigen Schaffot-Candidaten, als erstes Opfer darzubieten. Es versuchte aber Niemand die Thür einzubrechen oder überhaupt den Frieden des Hauses zu stören und so gewann allmählig die weibliche Neugier über den Schreck die Oberhand und machte sich alsbald in allerlei immer energischeren Fragen von Seiten Gertruds Luft. Ein kleiner Rippenstoß belehrte endlich die noch immer zitternde Toni, daß es nun an der Zeit sei, eingehendere Mitteilungen zu machen und sie rief deshalb in Thränen ausbrechend aus: „Ach, gnädiges Fräulein, ein Mann —”, hier versagte der Zofe die Stimme.

„Ein Mann?! — Ja — was ist denn nun mit dem Mann?” frug in aber Gertrud ärgerlich.

„Ach! - Denken Sie sich, gnädiges Fräulein — ein — ein fremder Mann — liegt in meinem Bett!”

Gertrud erhob sich auf dem Ellbogen ihres Armes und schaute Toni streng ins Gesicht. „Nun? — Und?” sagte sie. Jetzt ärgerte sich aber Toni über den Ton, mit dem ihre Herrin frug und kletterte eilig wieder aus dem Bert.„Nichts — und — er liegt ganz einfach und ungenirt, als müßte es so sein, in meinem Bett und schläft!”

„Schläft?”

„Schläft! — Ganz fest! — So fest, daß er es nicht einmal hörte, als ich über seine Stiefeln stolperte.”

„Und jetzt?”

„Jetzt? — Ja — jetzt schläft er wahrschemlich noch, denn er hat mich gar nicht bemerkt! — Aber ich gehe den gnädigen Herrn zu wecken, der wird schon mit dem — Mann fertig werden!”

Gertrud hielt Toni am Aermel ihres Kleides zurück. „Weißt Du was?” sagte sie, „das wollen wir doch lieber vorläufig nicht thun. Mama könnte zu sehr erschrecken. Warte — gieb mir Schlafrock und Pantoffel — wir fangen den Eindringling selbst!” „Wir?” Gertrud warf energisch den Schlafrock über und schlüpfte in die dargebotenen Pantoffeln.

„So — nun nimm die Lampe und geh' voran, draußen steht Papa's Säbel, den nehmen wir mit — wir riegeln oder schließen den Mann ganz einfach ein und dann ist er gefangen, er wird sich wohl hüten, zwei Stock hoch zum Fenster hinaus zu springen!” Toni schaute ihre junge Herrin erstaunt und bewundernd an, dann nahm sie die Lampe, öffnete zögernd die Thür und die weibliche Schleichpatrouille setzte sich in Bewegung.

Auf dem Flur nahm Gertrud den Säbel ihres Vaters und zog ihn unter Assistenz ihrer Begleiterin aus der Scheide, stellte letztere nun an ihren früheren Ort, dagegen stülpte sich Gertrud noch des Vaters Dienstmütze auf das lockige Haupt, faßte den Säbel fester und man rückte nun leise auf das feindliche Lager zu. — Jetzt war die Thür erreicht und man brauchte bloß den Schlüssel herumzudrehen — aber wie — wenn sich die vorhin so schlaftrunkene Toni getäuscht, vielleicht gar geträumt, oder falsch gesehen hätte — wenn gar Niemand dagewesen wäre und alles nur auf einer Einbildung Toni's beruhte? Gertrud beschloß deshalb, sich selbst zu überzeugen. „Oeffne ganz leise die Thür,” sagte sie energisch, „tritt uns jemand entgegen, so haue ich zu, und Papa's Hilfe ist uns ja gewiß, genug — ich will selbst sehen, ob Du Dich nicht etwa gar getäuscht hast.”.

„Fräulein!” entgegnete die arme Toni bittend, aber auch von Gertrud's Zweifeln verletzt.

„Na flink! Toni — man sieht, daß Du keine Soldatentochter bist.” .

„O, bitte recht sehr!” sagte Toni beleidigt,„mein Vater stand drei Jahre beim Train in Magdeburg.”.

Gertrud kräuselte etwas verächtlich die Lippen.

„Beim Train — das konnte ich mir denken — das sind eigentlich gar keine Soldaten” — „Oho!”

„Na ja — es ist ja gut — aber nun zeige auch, daß Du Courage hast und mache auf!”.

Jetzt konnte nun allerdings Toni ehrenhalber nicht länger zaudern, sie drückte deshalb leise auf die Klinke der Thür, indes sich Gertrud in die Positur eines römischen Fechters warf und entschlossen schien, einen etwaigen Angreifer sofort aufzuspießen. Die Thür öffnete sich ohne jedes Geräusch, aber — alles blieb still und doch — leise, tiefe Atemzüge drangen zu den Ohren der lauschenden Mädchen, das Licht der Lampe fiel jetzt voll auf das entweihte Lager Tonis und — tief in die Kissen vergraben, den Kopf aber, mit dem Gesicht den beiden Mädchen zugewendet, lag — von den Geistern des Weines in die falsche Etage geführt — auf Tonis Bett, unser Freund, der Doktor der Medizin Franz Lüdtke! Freundliche Träume mochten seinen tiefen Schlaf verschönern, denn ein Lächeln umspielte seinen hübschen, von stattlichem Schnurrbart gezierten Mund. Da — war es das Licht der Lampe, das ihn störte — oder sonst ein neckischer Kobold? — er öffnete auf einmal zwinkernd die Augen, sah im Rahmen der Thür ein liebliches, ihm nur zu bekanntes Angesicht, seufzte und rief halb singend: „Bruder, deine Liebste heißt? — Gertrud! — Sie soll leben!” Dann schloß er die Augen wieder und — schlief, indes die beiden Mädchen erschrocken zurücktraten und die Thür schlossen, ruhig weiter.

Draußen aber, vor der Zimmerthür, stand Gertrud — aber jetzt nicht mehr in der bewußten Fechterstellung, sondern das Mordinstrument gesenkt, mit hochgerötetem Angesicht und gesenkten Augen, und vor ihr — ein wenig boshaft lächelnd, die getreue Toni, welche leise flüsterte:

„Gertrud? — hat er gesagt? — Gertrud? — Das ist komisch — nicht? — gnädiges Fräulein? Haben Sie ihn erkannt? — Es ist der Student von oben — er hat sich wahrscheinlich beim Nachhausekommen in der Etage geirrt! Hm — bei Studenten kann so etwas schon vorkommen — aber was nun?”

„Lassen wir ihn liegen!” sagte jetzt Gertrud gefaßter, „es wird sein, wie Du sagst, und das Versehen wird ihm wohl ohnehin fatal genug sein, wenn er diesen Morgen erwacht. Komm — Du schläfft die wenigen Stunden bis zum allgemeinen Aufstehen bei mir und teilst gleich morgen früh Papa und Mama das Geschehene mit.”

„Auch unsern Kriegszug hier?” frug Toni lächelnd.

„Na — der kann wegbleiben — Papa wird dann schon das weitere Verfahren in dieser etwas heiklen Angelegenheit anordnen.” So endete der Kriegszug der beiden Mädchen, friedlich kroch die blitzende Klinge wieder in ihre Scheide und zehn Minuten später ruhte — wenigstens scheinbar — alles im tiefsten Schlummer.

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Unser guter Franz aber schlief den Schlaf des Gerechten bis weit in den Vormittag hinein, wußte er doch, daß ihn heute kein gestrenger, examinierender Professor durch irgend welche vergängliche Fragen nach irgend einer Ader, auf die sich der gute Kandidat zufällig nicht präpariert hatte, gefährlich werden konnte. Diese Sorge lag, Gott sei gelobt, hinter ihm; ja selbst als er weit nach neun Uhr erwachte, blieb er noch eine ganze Weile mit geschlossenen Augen liegen — sein Lager dünkte ihm heute so mollig, so weich, so sorgfältig zubereitet — gar nicht wie er es sonst von der schwieligen Hand seines Besens gewöhnt war. Er gelobte sich deshalb der armen, von ihm oft arg gequälten Person, für diese Aufmerksamkeit einen Extrathaler zu stiften — endlich entschloß er sich, nachdem er nach seiner Gewohnheit erst einige Male mit den Augen gezwinkert hatte, dieselben zu öffnen, aber gleich der erste Blick erschütterte seinen guten Vorsatz betreffs des Extrathalers merklich, denn — links von der Thürpfoste leuchteten ihm, sich in indiskreter Weise aufbauschend, eine ganze Anzahl — eins — zwei — drei — drei weißer, steif geplätteter Frauenröcke entgegen, in denen, wie er sofort reflektierte — die gefallsüchtige robuste Person zu einem der nächsten Sonntage wahrscheinlich irgend ein Tanzlokal unsicher machen wollte.

Das war stark! Dieselben so ganz ohne weiteres hier in sein Schlafzimmer zu hängen — na warte! — Seine Blicke flogen weiter, indem er sich dabei behaglich dehnte und streckte; aber auf einmal wurde sein Gesicht länger und länger, das behagliche Dehnen und Strecken hörte auf und mit einem „Donnerwetter!” sprang er mit beiden Beinen zugleich aus dem Bette. „Donnerwetter!” wiederholte er bestürzt, „wo bin ich hingeraten? ich bin ja gar nicht in meiner Bude!” er lief zum Fenster und schaute, dasselbe öffnend, vorsichtig hinaus. „Bei Gott! — Ich habe mich wahrhaftig diese Nacht beim Major einquartiert — das ist eine schöne Geschichte!”

Eine ganze Weile stand er bestürzt und völlig ratlos da, bis ihn seine etwas luftige Toilette daran erinnerte, sich nach seinen Sachen umzusehen. Hm! Da lagen sie alle, Beinkleider, Weste und Rock sorgfältig gereinigt und zusammengelegt und daneben standen, in einem Glanze, wie ihn eben nur ein das Wichsen aus dem ff verstehender Offizierbursche hervorzuzaubern vermag, seine Stiefeletten. Auf dem Tisch lag Uhr, Portemonnaie und sonstiger gewöhnlicher Inhalt seiner Kleidungsstücke, daneben Korpsband und die ebenfalls sorgfältig abgebürstete Mütze. „Hilf Himmel! — Man hatte ihn also bereits längst entdeckt! Was sollte er thun? — Wie war es möglich, unbemerkt zu entschlüpfen, um dann von seiner sicheren Bude aus eine Entschuldigungsepistel abzufassen und abzulassen, denn heute, oder gar jetzt dem Major — oder vielleicht gar — ihr — entgegenzutreten — das dünkte ihm wie unmöglich — also, was thun?”

So leise er es nur vermochte, machte er möglichst sorgfältige Toilette, glücklichlicher Weise war alles dazu vorhanden. Dann entschloß er sich, ebenso leise ein wenig die Thür zu öffnen. Hm! Vier bis fünf etwas lange Schritte reichten hin, die Vorsaalthür zu gewinnen — alles war draußen still — also — frisch gewagt! — Er schlüpfte aus der Thür, drückte dieselbe leise hinter sich ins Schloß, und — stand in bodenloser Verlegenheit und Verzweiflung derjenigen gegenüber, deren Anblick er just heute am meisten gefürchtet hatte, Gertrud, die im zierlichen, aber einfachen Hauskleide mit breiter, weißer Latzschürze, soeben aus der neben der Saalthür gelegenen Speisekammer trat.

Kam nun durch diesen neuen Streich des Schicksals unser Held, bezüglich seiner Fassung, gänzlich außer Rand und Band, so schien schien sich auch Fräulein Gertrud jetzt keineswegs ihrer Qualifikationen als resolute Soldatentochter zu erinnern, denn beide standen einander wortlos gegenüber und auf beider Angesicht wechselte Röte und Blässe, ja — als unser Doctor der Medizin gewahrte, daß sein liebliches Wesen keineswegs die Energie wie beim ersten Zusammentreffen zeigte, gewann er sogar zuerst die Sprache wieder und sagte:

„Mein gnädiges Fräulein! Es ist das zweite Mal, daß Sie mich Unglücklichen in einer, keineswegs zu meinen Gunsten sprechenden Situation erblicken! Das erste Mal.— O! Mein Fräulein, dürfte ich mir die spätere Erwiderung meiner respektvollen Grüße als Verzeihung für meine damalige — Kühnheit — nein Ungezogenheit — deuten? Und doch,” fuhr Franz, durch Gertruds erneutes Erröten kühner gemacht, fort, und doch habe ich bis zum heutigen Tage an der Erinnerung an jenen süßen Moment gezehrt und vermochte denselben nie zu vergessen. Ja! Je mehr ich auch das Letztere versuchte, um so tiefer grub sich die Erinnerung und mit ihr ein holdes Mädchenbild in mein Herz ein und ich fühlte allmählich, daß dieses Bild, Ihr Bild, ewig darin wohnen und dasselbe nie verlasseh werde. — O! Zürnen Sie mir nicht, mein gnädiges Fräulein, daß ich jetzt in einer Situation, wie solche ungünstiger wohl kaum für mich werden könnte — wage, meinem Herzen und dessen heißen Gefühlen Luft zu machen, wer weiß, ob mir es je wieder vergönnt ist, auch nur ein Wort wieder mit Ihnen zu wechseln und — und —”. Er vermochte in seiner Erregung nicht weiter zu sprechen, sondern sank vor ihr nieder, indem er ihre Hand faßte und an seine heißen Lippen drückte.

Hocherrötend hatte Gertrud diese seltsame, so plötzliche Liebeserklärung angehört, aber sie war ein wackeres, verständiges Mädchen, das Kopf und Herz auf dem richtigen Fleck hatte und wenn der gute Franz meinte, daß Gertrud kein Interesse für seine Person habe, so täuschte er sich einfach gewaltig, auch sie hatte jene erste Begegnung nie vergessen und seine späteren Grüße gern und freundlich erwidert, und wie sie nun jetzt vernahm, daß aus seinen Worten in Wahrheit ein übervolles, sie über Alles liebendes Herz sprach, da fühlte sie, wie es sich in ihrem eigenen Herzen auf einmal so seltsam regte, sie zog ihre Hand, welche Franz mit Küssen bedeckte, nicht zurück, wohl aber zog ihn ein leiser Druck derselben empor und als er aufblickend in ihre feuchten Augen schaute, da mochte wohl etwas Glückverheißendes darin stehen, denn der gegen Damen so schüchterne Franz zog plötzlich kühn das nicht widerstrebende Mädchen in seine Arme und zum zweiten Male fanden sich ihre Lippen! Jeder solche Kuß schien aber einmal nicht ohne Donnerwetter abzugehen, denn auch jetzt tönte es hinter dem Paare mit markiger Stimme:

„Donnerwetter!-— Also doch ein Spitzbube!”

Das Pärchen fuhr auseinander und Gertrud fiel dem Papa, denn das war der Störenfried, welcher vom Dienste zurück, unbemerkt eingetreten war, weinend um den Hals.

„Schöne Geschichten!” sagte derselbe halb lachend, halb ärgerlich. „Na, sei gut, Mädchen, geh' auf Dein Zimmer oder zur Mama - Sie aber, mein Herr, haben wohl die Güte, mir über diese Geschichte Aufklärung zu geben.”

Die Aufklärung aber, die unser Held alsbald in offenster Weise dem Major, sowohl über seine Verhältnisse, wie über sein Eindringen in dessen Wohnung und seine seltsame Werbung gab, mochte denselben jedenfalls sehr befriedigt haben, denn noch an demselben Abend fand sich Dr. Franz Lüdtke vom Major und dessen Gemahlin herzlich eingeladen, auf's neue in der Wohnung desselben ein und beide Eltern gaben, auf nunmehrige Werbung des Doktors um Gertruds Hand, gern und freudig ihre Einwilligung zur Verlobung des jungen Paares.

Ihren seltsamen und abenteuerlichen Kriegszug gegen den vermeintlichen Einbrecher aber erzählte Gertrud dem jovialen Medizinalrat, dem Vater ihres Franz, als derselbe anderen Tages selbst eintraf, um seine Einwilligung freudig zu erteilen. Der alte Herr lachte herzlich darüber und freute sich über die Kourage des herzigen Mädchens.

Franz aber segnete noch viele Male Vater Rießner und dessen Rüdesheimer, auch die Weißköpfe desselben sollen später in seinem eigenn Weinkeller niemals ganzlich ausgegangen sein.

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